[Flüchtlinge] Wir schaffen das! Oder sie uns? (2)

<- Teil 1

Meine persönlichen Erfahrungen beim Versuch, Flüchtlingen zu helfen. Ich habe die Veröffentlichung Monate lang hinausgezögert in der Hoffnung, der Ärger verfliege irgendwann. Dies war nicht der Fall. Einige Details mögen ‚verjährt‘ erscheinen; die Grundprobleme bestehen fort.
Falls der Jahresurlaub zur Lektüre nicht ausreicht, mag manch einer auch selektiv lesen.

1. Organisation vs. Bürokratie
2. Integration: Warum, wie, wann und wieviel?
3. Warten aufs Büro
4. Sporthalle Breckenheim: Der erste Kontakt
4.1 Exkurs: Aber die Kriminalität!
5. Eine schrecklich nette Familie
6. Die Ernüchterung
7. Vorläufig letzter Akt
8. Fazit: Vertröstet und entmündigt. Ich habe fertig!

 

1. Organisation vs. Bürokratie

Kennen Sie Menschen, deren Weltbild so aussieht?

OrgBad

Statt ungefähr so?

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Menschen, die glauben, alles ‚von oben‘ regeln zu müssen, und nicht delegieren können? Die erst alles an sich reißen und dann den Arbeitsanfall nicht bewältigen? Die den Organisationsgrad an der Zahl ausgefüllter Formulare messen?

Man nennt sie Bürokraten. In der rauen Realität gilt dagegen:

  • Je besser die Organisation, desto weniger Bürokratie ist nötig.
  • Organisation kann durchaus bedeuten, die Dinge einfach mal laufen zu lassen.
  • Basis einer effizienten Organisation ist Vertrauen in die Mitarbeiter.

Ich war ca. 25 Jahre als Berater in großen deutschen Firmen tätig und denke, ich kenne mich diesbzgl. aus. Die Projekte, die ich (mit)organisieren durfte, liefen zu 100% gut bis sehr gut. Der Umkehrschluss ist leider zulässig.

 

2. Integration: Warum, wie, wann, wieviel?

Warum Integration unverzichtbar ist, muss wohl nicht mehr erklärt werden. Ein Blick auf Frankreich und Belgien, Banlieues, Molenbeek und dort ausgebrütete Terroranschläge beantwortet alle diesbzgl. Fragen.

Wie integriert man Menschen aus einem anderen Kulturkreis? In allererster Linie über die Sprache, denn ohne gemeinsame Verständigungsbasis ist alles weitere utopisch. Also Sprachunterricht – für einen Hobbylinguisten wie mich eine (scheinbar?) machbare Aufgabe. Aber hier beginnt bereits der Dissens:

Sprachunterricht scheint hierzulande ein Synonym für Frontalunterricht zu sein. Hmmmnnnjaaa … also anno dunnemals habe ich in einem dreiwöchigen Ferienjob in Ascot mehr Englisch gelernt als in einem ganzen Schuljahr!
Natürlich, mit Massenabfertigung erreicht man (scheinbar?) die größte Anzahl an Lernenden. Die Kehrseite der Medaille: Man kann nicht auf deren individuelle Stärken (Fremdsprachenerfahrung) und Schwächen (Analphabetismus) eingehen. Trotzdem habe ich mich auch für Frontalunterricht angeboten; besser als nichts ist er allemal.

Die m.E. bessere Möglichkeit: Sich einfach mit Flüchtlingen unterhalten – mit (einfachem) Englisch, Gestik und Mimik. Dabei immer wieder on the fly deutsche Begriffe und kurze Sätze einfließen lassen und erklären.
Mit Kindern hingegen konsequent deutsch sprechen (Immersion); die lernen so rasend schnell, dass alles andere ein unnötiger Umweg ist.

Wann sollte Integration beginnen? Nach Meinung dt. Behörden offensichtlich nach vielen Monaten, wenn der Flüchtling endlich seinen Asylantrag einreichen durfte und dieser nach weiteren Monaten gar bewilligt wurde. Als ob es schaden würde, wenn ein letztlich abgelehnter Asylbewerber ein paar Brocken Deutsch könnte … :/
Ein Kapazitätsproblem kann eigentlich nicht der Grund für diese Restriktionen sein, wenn man sich den Luxus erlauben kann, hilfsbereite Menschen am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen.

Wieviel Sprachunterricht = Integration stattfinden sollte, scheint ebenfalls willkürlich festgelegt zu sein. Meines Wissens bekommen Flüchtlinge zweimal pro Woche Sprachunterricht. Nun ja …

 

3. Warten aufs Büro

Im August 2015 biete ich dem ‚Amt für Grundsicherung und Flüchtlinge‘ der Stadt Wiesbaden per Web-Formular inkl. exzessivem Fragebogen Sprachunterricht an. Tage später eine Standard-Antwort mit dem Tenor: „Don’t call us, we’ll call you!“.
Später im ‚Kurier‘ zu lesen: Dem Amt liegen über 1000 Anfragen vor, deren Bearbeitung halt dauert. Theoretisch hätte man mich auch an einen bereits aktiven Flüchtlingshelfer weiterleiten können, der meine Brauchbarkeit beurteilt … rein theoretisch …

Nächster Versuch: Freiwilligenzentrum Wiesbaden e.V.. Dort bekomme ich zeitnah einen Gesprächstermin. Für Sprachunterricht gebe es allerdings derzeit schon genügend Helfer. Aha. Siehe oben.

Stattdessen einigen wir uns auf die Erstellung einer Website für den Somalia-Verein (in Gründung); auch aus Somalia kommen ja einige Flüchtlinge. Indes höre ich von der Vereinsgründerin nach einem Telefonat und zwei Email-Antworten nie wieder etwas.

Nebenbei frage ich die freundliche Freiwilligenvermittlerin nach dem Verhältnis des e.V. zum  ‚Amt für Grundsicherung und Flüchtlinge‘:

Mit denen haben wir eigentlich nicht viel zu tun.

Wochen später eine Email eben jenes Amtes:

Im Zusammenhang mit der Organisation von Sprachkursen arbeiten wir eng mit unserem Kooperationspartner, dem Freiwilligenzentrum Wiesbaden, zusammen.

Aha. Die einseitig-bilaterale Zusammenarbeit – wahrlich ein Meilenstein der Organisationskultur! 😀

Wenig später kommt es zu einem Vorfall – genauer gesagt: einem Bandscheibenvorfall. Ich bin erst mal lahmgelegt. Dann jedoch ein Wink des Schicksals …

 

4. Sporthalle Breckenheim: Der erste Kontakt

Wiesbaden-Breckenheim, Oktober 2015.
Im Zahnarzt-Wartezimmer treffe ich eine Familie, der Kleidung nach vermutlich Flüchtlinge: Mutter, Vater, eine halbwegs erwachsene Tochter und ein vierjähriger Bub mit Zahn-Aua. Der liegt platt mit dem Bauch auf dem Boden und sagt keinen Mucks. Die Mutter spricht mich an: „English?“ „Yes“. Ihr Englisch ist genauso wenig perfekt wie meines, aber wir können uns verständigen.

Sie sind Palästinenser aus Syrien (d.h., einst dorthin geflüchtet) und in der hiesigen Sporthalle untergebracht, die einige Wochen als Notunterkunft fungiert.

Turnhalle

Abb. ähnlich. Grund? Siehe unten. Quelle:
Der Tagesspiegel: Merkwürdige Praxis - Flüchtlinge in Turnhallen
bekamen Einzugsbescheide für Rundfunkgebühren
 Mehr über bundesdeutschen Bürokratenirrsinn in Teil 3 ...

Ich lobe noch das brave Kind; die meisten anderen würden schreien oder zumindest quengeln. Jedoch spricht der Kleine leider auch später kein einziges Wort – traumatisiert?

Ich so: „Are you well supplied? Do you need anything?“.
Sie so: „Chocolate.“
Dann werde ich zur – langwierigen – Behandlung aufgerufen und sehe die Familie vorerst nicht mehr. Aber es lässt mir keine Ruhe, und ich will doch eh mal schauen, ob in der Sporthalle noch Hilfe gebraucht wird. Also besorge ich eine kleine Tüte mit Schoko-Kram, schreibe ein paar Seiten in Englisch über Grundlagen der deutschen Sprache und fahre ein paar Tage später zur Halle.

Erster Eindruck: Ah, Rotes Kreuz! Die machen ja einen prima Job hier! Alles sauber und ordentlich, kein Müll, keine Randale – eine relaxte Atmosphäre. Dazu trägt sicher auch bei, dass die vielen jungen Männer sich auf dem benachbarten Sportplatz beim Fußball austoben können. Aber was ist bei schlechtem Wetter?

Apropos: Ja, viele junge Männer. Aber auch wirklich viele Familien mit kleinen Kindern! Die Statistiken sind uneinheitlich; pi mal Daumen liegt der Kinderanteil in Breckenheim wie in ganz Deutschland 2015 wohl bei 25 – 30%, in 2016 sogar höher.
Dass „nur junge Männer“ kommen, ist also rechtsdrehender Blödsinn. Warum überwiegend junge Männer kommen, sollte mittlerweile bekannt sein!

Und noch etwas: Im Vergleich zu Einheimischen sind die meisten Flüchtlinge extrem höflich – und trotz allem, was sie mitgemacht haben, viel besser gelaunt!

 

4.1 Exkurs: Aber die Kriminalität!

Im Netz kursieren zahlreiche Gräuelmärchen von bestialisch vergewaltigten und ermordeten blonden deutschen Putzfrauen sowie leergeklauten Supermärkten im Umfeld von Flüchtlingsunterkünften.
Das ist zu > 95% rechte Propaganda, oft mit irgendwelchen Fotos garniert, die zu ganz anderer Zeit an ganz anderen Orten aufgenommen wurden. Hier nur ein Beispiel.

Ja, es gab anderswo Schlägereien und Schikanen unter Asylbewerbern. Mittlerweile sind einige Behörden auf die Idee gekommen, verfeindete Ethnien und Religionen getrennt unterzubringen. Besser späte als gar keine Einsicht …

In Breckenheim jedenfalls manifestiert sich ‚Kriminalität‘ ungefähr so:

  • Jemand teilt mein Laster und schnorrt mich um eine „Sigarett?“ an. Ich möchte ihm drei geben, aber er bleibt bescheiden bei einer einzigen.
  • Junge Männer ziehen sich mitten in der Halle um; OK, Amateur-Chippendales für muslimische Frauen müssen nicht wirklich sein.
  • Zwei lustige Typen, die sich mir als Messi und C. Ronaldo vorstellen, bolzen auf dem Parkplatz – aber durchaus gekonnt; der Super-GAU in Gestalt einer kleinen Beule an einem deutschen Auto tritt nicht ein.

 

5. Eine schrecklich nette Familie

Vorweg: Ich weiß gar nicht so sehr viel über diese Familie. Wir haben uns nur viermal getroffen, und es schien mir wichtiger, ihre zahlreichen Fragen zu beantworten als selber welche zu stellen. Manches habe ich mir also nur zusammengereimt.

Eine nette DRK-Mitarbeiterin („Eigentlich darf da ja kein Externer rein“) vermittelt mir einen supernetten Übersetzer zwecks Begleitung in die Halle; der kennt den kleinen Jungen, und die Familie ist schnell gefunden. Der Gesichtsausdruck der Mutter wechselt innerhalb einer Sekunde von ‚Häh?‘ über ‚Oh!‘ zu ‚Aaah!‘, und der Kleine reißt die Kinderschoko-Verpackung dermaßen gierig auf, dass ich das Gefühl habe, wohl das Richtige getan zu haben. Nicht die paar Euro für Süßkram zählen, sondern die Geste.

Nach und nach erfahre ich, dass die Familie zu siebt ist:
Nein, der Papa ist kein Schuhverkäufer, sondern Anstreicher; in D’land, wo man jüngst auf die glorreiche Idee kam, mal wieder Wohnungen zu bauen, vielleicht eine brauchbare Qualifikation! Leider spricht er als einziger kaum Englisch. Aber dass er mir jeweils nach spätestens drei Sekunden enthusiastisch einen Becher Kaffee oder Saft überreicht, zeigt die Bedeutung von Gastfreundschaft in seiner Kultur. Ganz hoch anzurechnen ist ihm auch, dass er wohl sehr viel in die Ausbildung seiner überhaupt nicht dumpfbackigen Kinder investiert hat!
Die Älteste (19) hat im Libanon studiert, der ältere Sohn (14) ist dort zur Schule gegangen. Beide sowie die zweitälteste Tochter (18) sprechen wirklich gut Englisch.

Die Mutter, ebenfalls ein herzensguter Mensch, wirkt wie die Chefin im Ring, der sprichwörtliche Fels in der Brandung und überhaupt nicht muslimisch unterdrückt. Außerdem gibt es noch eine niedliche, super-lebhafte und -gesprächige Achtjährige und eben den stillen kleinen Bub.

AnomEin Bild aus glück­licheren Tagen. Man beachte den ge­pflegten Boule­vard, der ebenso­gut in den US-Süd­staaten  lie­gen könnte. Nein, Flücht­linge kommen nicht aus Beduinen­zelten! Und nein, sie werden diese Idylle nicht aus Jux oder zwecks „Umvolkung“ der Deutschen verlassen haben!

Anders als „der erste Kontakt“ vermuten lässt, sind sie eben keine Aliens, sondern ganz normale Menschen. Die Facebook-Seiten der Jugendlichen sehen jenseits der Sprache genauso aus wie die von Europäern: viel Fußball bei den Jungs, Mode und Popstars bei den Mädels. Klar, im Schnitt sind sie impulsiver und temperamentvoller als unsereiner. Aber es soll ja auch äußerst emotionale Deutsche geben. Was auffällt: Diese Menschen sind zierlicher als wir. Ich hatte die Kinder allesamt um zwei Jahre jünger geschätzt als sie tatsächlich sind.

 

6. Die Ernüchterung

Vier Tage später möchte ich eigentlich nur ein Update meines Minisprachkurses vorbeibringen. Flüchtlinge bekommen nämlich in den ersten Wochen oder gar Monaten keinen Deutschunterricht! Verlorene Zeit! Denn die Kehrseite der o.g. Medaille ‚relaxte Atmosphäre‘ heißt ‚Apathie‘! Vor allem Frauen und ältere Männer sitzen / liegen beschäftigungslos herum und starren ins Leere. Sie können ja nicht den ganzen Tag nach Hause skypen.

Eine ältere Dame vom DRK verwehrt mir den Zutritt, ebenso zwei Jugendlichen, welche die obligatorischen gelben Westen verlangen. Nach einem kleinen bürokratischen Hürdenlauf darf ich nächstes Mal wieder zu ‚meiner‘ Familie vordringen. Die beiden Jugendlichen turnen ebenfalls in der Halle herum – ohne Westen. Viele deutsche Jugendliche in gelben Westen sitzen unter sich zusammen; Gespräche mit den Flüchtlingen habe ich kaum beobachtet.

Die freundliche ‚Genehmigungsbefugte‘ des DRK meint übrigens, aus meiner – doch naheliegenden? – Idee einer Patenschaft könne man „auch mal ein Projekt machen“. Ja, könnte man. Muss man aber nicht. Man muss die potenziellen Paten nur machen lassen!

Auch berichtet sie mir, es werden „händeringend“ Helfer für körperliche Arbeit gesucht. Damit kann ich wegen kaputten Rückens nicht dienen. Aber Moment mal! Was ist mit den ganzen superfitten jungen Flüchtlingsmännern? In der Tageszeitung lese ich später, dass in einer anderen Unterkunft mangels hochoffizieller Helfer wochenlang Möbel im Keller herumstanden – bis die Flüchtlinge „die Sache selber in die Hand nahmen“ und sie in die oberen Etagen trugen. Geht doch!

Eines Tages frage ich als höflicher Mensch den DRK-Schichtleiter, ob ich in der Halle oder auf dem Gelände fotografieren dürfe; ich wolle einen (ursprünglich) positiven Bericht (diesen!) schreiben. Ein äußerst barsches „Nein!“. Ich denke noch: „Was hat er? Sieht doch alles picobello aus“. Die ‚Begründung‘ zieht mir innerlich die Schuhe aus:

Das verstößt gegen die Persönlichkeitsrechte!

Nee, ne  …

Man google mal ‚Fußgängerzone‘. Was sieht man auf den Bildern? Millionen persönlichkeitsentrechteter Menschen. Was zeigt die Sportschau, wenn das Spiel gerade so dahinplätschert? Tausende persönlichkeitsentrechtete Menschen auf den Tribünen. Wer oder was ist auf dem oben geposteten Turnhallen-‚Ersatzfoto‘ zu sehen? Etwa persönlichkeitsentrechtete Flüchtlinge?

Vor allem aber: Wie steht es denn um das Persönlichkeitsrecht, wenn Flüchtlinge nicht selber entscheiden dürfen, ob sie sich ablichten lassen wollen? Ich hätte zu gern ein Erinnerungsfoto von der ganzen Familie gehabt. „Erinnerungsfoto“? Warum das?

 

7. Vorläufig letzter Akt

Zwei Wochen später ist ‚meine‘ Familie in ein ehemaliges Altersheim am anderen Ende der Stadt, das Simeonhaus, umgezogen. Ich freue mich für sie; ihre zwei Zimmer sind sicher keine Fürstensuiten, aber endlich haben sie wieder eine Privatsphäre.
Anruf: „We miss you!“.
„I miss you, too. I’m going to visit you soon; just let me make sure that I’ll be admitted to the building“.
Anruf beim Amt (s.o.). Auskunft:

Dafür ist das Land zuständig. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Flüchtlinge keinen Besuch empfangen dürfen. Da wird es ja wohl einen Concierge geben.

Tja – die Rigorosität des DRK sprengte leider auch die Vorstellungskraft der freundlichen Beamtin. Nach 45 Minuten Gurkerei quer durch Wiesbaden verwehrt mir dieselbe DRK-Mitarbeitern, die mir beim ersten Mal in Breckenheim noch so behilflich war, den Zutritt mit der ‚Begründung‘:

Wenn wir einen reinlassen, kommt dann jeder und will rein.

Aha. Ich frage mich heute noch, wie ich jemals Zutritt zu Hochsicherheitstrakten diverser Firmen erhalten konnte, die eigentlich auch kein Interesse daran haben, dass dort jeder reinlatscht. Ach ja:
– Perso an der Rezeption abgeben,
– vom Besuchten dort abholen lassen.
– Fertig!

Zufällig treffe ich aber einige Familienmitglieder draußen; an einem trockenen, wenn auch nicht gerade warmen Herbsttag unterhalten wir uns zwei Stunden an der frischen Luft.
Dabei erfahre ich von den Töchtern, dass sie alle ‚weiterflüchten‘ wollen nach Belgien. Der Papa will schnellstmöglich wieder arbeiten; seine Einschätzung, in D’land dauere das mindestens ein Jahr, scheint mir realistisch. Außerdem haben sie Verwandte dort.
Ich beglückwünsche sie zu ihrem Entschluss und verabschiede mich: „See you!“

Leider nicht! Denn die Flucht nach Belgien geht offenbar Hals über Kopf vonstatten!
Drei Tage später rufe ich den 14-Jährigen an, dem ich ein Cover für sein Handy besorgt habe. Der Junge ist völlig aufgelöst: Sie seien auf dem Weg nach Karlsruhe!
Kaaarlsruhe? Häääh?!?! Ich versuche, beim DRK und den Johannitern eine Auskunft zu erhalten – natürlich vergeblich. Wahrscheinlich wieder Datenschutz, Persönlichkeitsrechte, bla, bla, bla …

Eine Woche später: der erste Facebook-Post aus Belgien. Aha. Einziger möglicher Reim darauf: In Karlsruhe gibt es sowas wie eine Bundeszentralsammelstelle für Flüchtlingsweiterreise. Liegt ja auch quasi auf dem Weg von WI nach BE. Hat jemand eine noch bessere Erklärung?

Jedenfalls ist der Kontakt zur Familie auf Facebook-Format geschrumpft. Ich vermisse diese lieben Menschen sehr. Aber die Hauptsache ist, dass es ihnen in Belgien anscheinend ganz gut geht und sie sich erwartungsgemäß sehr schnell eingelebt haben.

Übrigens: Während der Parkbank-Sitzung sind wir urplötzlich von einer Schar Kleinkinder umzingelt – vermutlich angelockt durch mein iPad. Ich halte ihnen das Tablet hin, und viele kleine Finger pfoten begeistert darauf herum. Irgendwann haben die Kiddies das Fotoalbum mit niedlichen bzw. imposanten Tierbildern entdeckt:
leuchtende Augen, strahlende Gesichter! ❤
Der Spuk dauerte höchstens drei Minuten, aber allein dafür hat sich der Trip doch gelohnt!

OK, Lebbe geht weider. Es gibt ja noch andere nette Flüchtlinge – und mittlerweile auch ein Frontalunterrichtsangebot vom Freiwilligenzentrum. Tatort: Simeonhaus, das ich schon kenne. Verantwortlich ist diesmal ein netter Mensch von den Johannitern.
Seine Nettigkeit hält indes auch ihn nicht davon ab, mich Woche um Woche zu vertrösten.
Auch er hält es nicht für nötig, mir einfach einen Ansprechpartner unter den bereits aktiven Helfern zu nennen, mit dem ich (fast) alles weitere hätte auskaspern können – aber stöhnen, dass er keine Zeit habe! Siehe 1.

Deshalb habe ich mir eine Frist bis Jahresende gesetzt; viereinhalb Monate Vera…lberung sind genug! Nachdem auch die letzte Ankündigung des Johanniters, sich zwischen den Jahren wieder zu melden, nicht über die Ankündigung hinauskommt, reicht es nun erst mal!

 

8. Fazit: Vertröstet und entmündigt. Ich habe fertig!

Mit einer Ausnahme waren alle oben kritisierten Personen sehr nett und freundlich und sicherlich besten Willens. Ich erlaube mir nur die Frage: Reicht das?
Das DRK und andere Hilfsorganisationen versorgen die Flüchtlinge vorbildlich mit einem Dach über dem Kopf, einer Schlafgelegenheit und mit Nahrung. Lebensnotwendig, keine Frage! Böse Frage: Aber leistet das nicht auch der Landwirt für sein Vieh?
Aus Flüchtlingsperspektive formuliert es ein ‚Welt‘-Kommentator so:

… Würdeverlust eines fremdbestimmten Menschen in Lagerhaltung. (Quelle)

Und schon in der Bibel steht:

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.

Menschliche Ansprache und ‚geistige Nahrung‘ fallen offensichtlich nicht in den Aufgabenbereich von DRK & Co.. Überhaupt nicht schlimm – aber muss man denjenigen, die in diese Bresche springen wollen, derart Knüppel zwischen die Beine werfen?

Natürlich, koordinierte Hilfe ist besser als unkoordinierte. Die offensichtlich herrschende Meinung, dass gar keine Hilfe besser sei als unkoordinierte, mutet indes absurd an.

Wäre ich eigentlich ein brauchbarer Sprachlehrer? Mangels Gelegenheit eine hypothetische Frage. Aber ich denke, als Hobby-Linguist kann ich Sprache ganz gut erklären. Oder sollte man mindestens Arabistik-Professor sein, um Flüchtlingen zu helfen? Pädagogikstudium? Kann hilfreich sein  – muss aber nicht, wenn ich an die didaktischen Nieten während meiner Schulzeit denke.

Aber es gibt doch allein in Wiesbaden Tausende von Menschen, die Flüchtlingen helfen! Wie zur Hölle machen die das? Keine Ahnung. Hat jemand eine Idee, was ich falsch gemacht habe? Wie sollen Flüchtlinge und Helfer möglichst normal miteinander umgehen, wenn beide Seiten von der staatlichen wie NGO-Bürokratie entmündigt werden? Diese Frage hat mich viele schlaflose Nächte gekostet.

Wie geht’s nun weiter? Aufgeschoben ist jedenfalls nicht aufgehoben. Im Sommer kann man sich einfach auf eine Wiese setzen, um mit Flüchtlingen zu reden. Auch werden die hoffentlich eines Tages eigene Wohnungen inkl. Hausrecht haben. Zunächst aber werde ich – natürlich nicht wegen dieser Geschichte – Wiesbaden den Rücken kehren. Vielleicht läuft es ja in Bielefeld (zentrale Erstaufnahme für ganz NRW) besser …

… und Spenden sind zum Glück noch nicht erlaubnispflichtig;
diesmal geht ein kleiner Obelix Obolus mit der Bitte um Nachahmung an:

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Über Querdenkmaler

Berufe: Jurist, Musiker, IT-Berater. Hobbies: Web-Aktionismus (seit 1999), Musik, Geschichte, Linguistik, Strategiespiele.
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2 Antworten zu [Flüchtlinge] Wir schaffen das! Oder sie uns? (2)

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  2. Beate schreibt:

    Na, das hast du ja ordentlich was erlebt….
    Das mit dem Helfen ist wirklich so eine vertrackte Sache. Für mich ist es auch das erste Mal, dass ich mich ehrenamtlich für etwas engagiere, aber auch meine Hilfe musste ich mich hart erkämpfen. Bei uns steckt kein Verband dahinter, sondern irgendwann hat man in meiner Stadt beschlossen einen Arbeitskreis zu gründen, der sich der Flüchtlingshilfe widmet und da kann jeder mitmachen.
    Hört sich gut an? Ist es aber nicht!
    Ich komme eigentlich aus dem Projekt- und Prozessmanagement (Softwarebranche) und dieses Chaos, das mir hier um die Ohren flog, hat mir bald den Verstand geraubt.
    Hier kommen die unterschiedlichsten Menschen zusammen, die grob an dem gleichen Ziel arbeiten möchten, aber ohne Vorstellungsgespräch oder Qualifizierung und ohne dass irgendwelche Regeln eingesetzt werden. Und die Motive, die viele Menschen dazu bewegten, sich einzubringen, waren nicht immer ehrenhaft…
    Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Menschen und Kirchen in Deutschland gab, die Bekehrung und Missionierung im großen Stil betrieben und dazu kamen auch noch die ewigen Jungfrauen, die jetzt ihre Chance witterten, endlich diesen Status ablegen zu können.

    Menschen mit selbstlosen Motiven und einfach nur dem Wunsch, helfen zu wollen – ich tippe auf ungefähr 30 – 40% .

    Und jeder macht, was er will….

    Da Ordnung rein zu kriegen, ist eine Mammutaufgabe! Denn selbst bei den 30-40% scheint die Mehrheit zu denken, dass sie das ja in ihrer Freizeit machen und deshalb keine Regeln und keine Hierarchien brauchen und einfach nur mitmachen, weil es ihnen Spaß macht…
    In mir schreit es jeden Tag: “ Ich kann so nicht arbeiten!!!!“
    Aber ehrlich, so richtig interessiert das eigentlich keinen. Also mache ich mein Ding und versuche einfach zu vergessen, wie zeitsparend, organisiert und produktiv wir doch arbeiten könnten, wenn jeder sich nur an ein paar Regeln halten würde…
    Dann hätte z.B. die Familie mit den süßen Kindern nicht 6 Paten, während sich niemand um die gerade 18 gewordenen Jungens kümmert….
    Also muss ich immer daran denken: Schließlich mache ich das hier für die Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten und nicht, um anderen Ehrenamtlichen Prozessmanagement beizubringen.

    Und eigentlich rate ich dir das auch! Vergiss nie, für wen du das tust und nur weil die Struktur herum nicht funktioniert, so sollte das deiner Beziehung zu einer Flüchtlingsfamilie, zu der du Kontakt aufgebaut hast, nichts im Wege stehen.
    Noch ist das Wetter schön, gehe einfach auf sie zu, wie du selber schon angedacht hast, und rede mit ihnen im Park, auf der Wiese, im Freibad, am Baggersee. Ich mache das so oft und bisher hat mich noch nie jemand abgewiesen. Aber vielleicht hast du das ja auch jetzt schon gemacht und /oder vielleicht ist ja auch alles in Bielefeld viel besser organisiert, so dass man dankbar auf deine Kompetenz und dein Hilfsangebot zugreift…

    Ich wünsche es dir und wünsche dir weiterhin viel Kraft! Ich finde es einfach toll, was du tust! Danke!

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